August 2023
- August 2023
- Arbeitsrecht
- Antidiskriminierungsgesetz: Benachteiligung bei Besetzung der Stelle einer Gleichstellungsbeauftragten
- Bundesarbeitsgericht: Gleiches Entgelt für Frauen und Männer
- Vergütungskürzung: Arbeitspflichten im Verein: Arbeitsrecht ist zu beachten
- Arbeitsplatzverlust: Ermäßigte Besteuerung von Abfindungen nur bei Zusammenballung der Einkünfte
- Baurecht
- Familien- und Erbrecht
- Mietrecht und WEG
- Verbraucherrecht
- Fehlender Informationsaustausch: Guthaben war schon ausbezahlt: Trotz Sparbuch kein Geld
- Vertragsklausel: Makler können Reservierungsgebühren in Allgemeinen Geschäftsbedingungen nicht wirksam vereinbaren
- Solaranlage: Verkäufer muss nicht ohne Weiteres darüber aufklären, dass keine Notstromfunktion vorhanden ist
- Verkehrsrecht
- Schadensregulierung: Wenn der Versicherer einen gestellten Unfall vermutet
- Nutzungsausfallentschädigung: Oldtimer: Zwingend erforderlich für die eigenwirtschaftliche Lebensführung?
- Schadenersatz: Kein Abzug „neu für alt“ bei Brillengläsern
- Geschwindigkeitsverstöße: Fahrtenbuchauflage kann es auch für den gesamten Fuhrpark geben
- Verfolgungsfahrt: Flüchtender Autofahrer haftet auch für beschädigten Streifenwagen
- Wirtschafts- und Gesellschaftsrecht
- Arbeitsrecht
Arbeitsrecht
Antidiskriminierungsgesetz: Benachteiligung bei Besetzung der Stelle einer Gleichstellungsbeauftragten
Der Kläger beanspruchte eine Entschädigung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, da er wegen seines Geschlechts zu Unrecht benachteiligt worden sei. „Keine Chance“, sagte jetzt das Landesarbeitsgericht (LAG) Hannover. Soll nämlich ein Teil der Tätigkeiten erbracht werden, die der Gleichstellungsbeauftragten obliegen, ist das weibliche Geschlecht unverzichtbare Voraussetzung.
Das war geschehen
Die Beklagte – eine Hochschule – schrieb eine Stelle als Gleichstellungsbeauftragte aus. Das Niedersächsische Hochschulgesetz (§ 42 NHG) sieht für die Besetzung des Amtes der Gleichstellungsbeauftragten eine Frau vor. Der Kläger – der sich als keinem Geschlecht zugehörig ansieht – bewarb sich hierauf und beschrieb sich in seiner Bewerbung als nicht-binäre Person. Er wurde von der Hochschule für die Stellenbesetzung nicht berücksichtigt. Die Hochschule sah sich durch das NHG schon formell an der Einstellung einer nicht weiblichen Bewerberin gehindert.
Ungleichbehandlung gegeben
Das Arbeitsgericht (ArbG) Braunschweig hatte die Entschädigungsklage abgewiesen. Die Berufung des Klägers blieb vor dem LAG erfolglos. Das LAG: Der Kläger wurde gegenüber weiblichen Bewerberinnen ungleich behandelt. Die Ablehnung der Bewerbung des Klägers auch aufgrund seines Geschlechts ist nicht schon deshalb zulässig, weil § 42 NHG die Besetzung des Amtes der Gleichstellungsbeauftragten mit einer Frau gebietet. Diese gesetzliche Beschränkung auf ein bestimmtes Geschlecht des Stelleninhabers führt nicht zwingend zur Rechtfertigung einer auf sie gestützten Maßnahme. Diese ist ihrerseits nur wirksam, wenn bezüglich des geregelten Sachverhalts u.a. die Vorgaben nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (§ 8 AGG) inhaltlich erfüllt sind. Danach ist eine unterschiedliche Behandlung u. a. wegen des Geschlechts zulässig. Dann muss dieser Grund aber wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellen, sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist. Dementsprechend kann das Geschlecht nur dann i. S. d. AGG eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung bilden, wenn die Tätigkeit ohne das Merkmal jedenfalls nicht ordnungsgemäß durchgeführt werden kann. Abzustellen ist auf die konkret vom Arbeitnehmer auszuübende Tätigkeit, die sich nach dem vom Arbeitgeber festgelegten Unternehmenskonzept richtet.
Weibliches Geschlecht unverzichtbare Voraussetzung
Dies ist vorliegend nach dem Stellen- und Aufgabenzuschnitt der Beklagten zu bejahen. Zur Erbringung eines Teils der der Gleichstellungsbeauftragten obliegenden Tätigkeiten ist das weibliche Geschlecht unverzichtbare Voraussetzung. Zwar kann ein Mann grundsätzlich in gleicher Weise wie eine Frau an der Gleichberechtigung von Männern und Frauen mitwirken und Maßnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie entwickeln. Das gilt aber nach der Stellenanzeige der Beklagten nicht für einen erheblichen Teil der Aufgaben. Nach der Stellenanzeige der Beklagten und dem beschriebenen Aufgabenbereich berät die Gleichstellungsbeauftragte u.a. Hochschulangehörige in allen Fragen der Gleichstellung, der Vereinbarkeit von Studium und Beruf mit Familien- und Care-Aufgaben sowie in Fällen von Diskriminierung, sexueller Belästigung etc.
Sexuelle Belästigungen: Hauptbetroffene sind Frauen
Die Gleichstellungsbeauftragte dient danach insbesondere als Ansprechpartnerin bei sexuellen Belästigungen, deren Hauptbetroffene Frauen sind. Insoweit ist davon auszugehen, dass Erwartungen Dritter, die auf deren Schamgefühl beruhen, ebenso wie die Notwendigkeit einer bestimmten Geschlechtszugehörigkeit zur Authentizität der Aufgabenwahrnehmung legitim sind und ihnen kein diskriminierender Charakter innewohnt. Gleiches gilt, wenn ein Vertrauensverhältnis zu einer bestimmten Gruppe erforderlich ist und dieses bedingt, dass der fragliche Arbeitnehmer selbst dieser Gruppe angehört, wie dies der Fall ist, wenn Opfer von Diskriminierung beraten und betreut werden.
Vor diesem Hintergrund konnte die Hochschule den Bewerberkreis für das Amt der Gleichstellungsbeauftragten im Ergebnis auf Frauen beschränken. Die Revision gegen das Urteil hat die Kammer nicht zugelassen.
Quelle | LAG Niedersachsen, Urteil vom 24.2.2023, 16 Sa 671/22, PM vom 28.2.2023
Bundesarbeitsgericht: Gleiches Entgelt für Frauen und Männer
Eine Frau hat Anspruch auf gleiches Entgelt für gleiche oder gleichwertige Arbeit, wenn der Arbeitgeber männlichen Kollegen aufgrund des Geschlechts ein höheres Entgelt zahlt. Daran ändert sich nichts, wenn der männliche Kollege ein höheres Entgelt fordert und der Arbeitgeber dieser Forderung nachgibt. So entschied es das Bundesarbeitsgericht (BAG).
Das war geschehen
Die Klägerin ist seit dem 1.3.2017 bei der Beklagten als Außendienstmitarbeiterin im Vertrieb beschäftigt. Ihr einzelvertraglich vereinbartes Grundentgelt betrug anfangs 3.500 Euro brutto. Seit dem 1.8.2018 richtete sich ihre Vergütung nach einem Haustarifvertrag, der u. a. die Einführung eines neuen Eingruppierungssystems regelte. Die für die Tätigkeit der Klägerin maßgebliche Entgeltgruppe des Haustarifvertrags sah ein Grundentgelt von 4.140 Euro brutto vor. Im Haustarifvertrag heißt es: “Für den Fall, dass das neue tarifliche Grundentgelt das bisherige tarifliche Entgelt (…) überschreitet, erfolgt die Anpassung um nicht mehr als 120 Euro/brutto in den Jahren 2018 bis 2020“ (Deckelungsregelung). Infolge dieser Bestimmung zahlte die Beklagte der Klägerin seit dem 1.8.2018 ein Grundentgelt von 3.620 Euro brutto, das in jährlichen Schritten weiter angehoben werden sollte.
Neben der Klägerin waren als Außendienstmitarbeiter im Vertrieb der Beklagten zwei männliche Arbeitnehmer beschäftigt, einer davon seit dem 1.1.2017. Die Beklagte hatte auch diesem Arbeitnehmer ein Grundentgelt von 3.500 Euro brutto angeboten, was dieser jedoch ablehnte. Er verlangte für die Zeit bis zum Einsetzen einer zusätzlichen leistungsabhängigen Vergütung, d. h. für die Zeit bis zum 31.10.2018, ein höheres Grundentgelt von 4.500 Euro brutto. Die Beklagte gab dieser Forderung nach. Nachdem die Beklagte dem Arbeitnehmer in der Zeit von November 2017 bis Juni 2018 – wie auch der Klägerin – ein Grundentgelt von 3.500 Euro gezahlt hatte, vereinbarte sie mit diesem ab dem 1.7.2018 eine Erhöhung des Grundentgelts auf 4.000 Euro brutto. Sie begründete dies damit, dass der Arbeitnehmer einer ausgeschiedenen, besser vergüteten Vertriebsmitarbeiterin nachgefolgt sei. Ab dem 1.8.2018 zahlte die Beklagte dem männlichen Arbeitnehmer ein tarifvertragliches Grundentgelt nach derselben Entgeltgruppe wie der Klägerin, das gemäß der „Deckelungsregelung“ des Haustarifvertrags 4.120 Euro brutto betrug.
Arbeitnehmerin scheiterte in den Vorinstanzen
Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin von der Beklagten rückständige Vergütung für die Zeit von März bis Oktober 2017 von monatlich 1.000 Euro brutto, rückständige Vergütung für den Monat Juli 2017 von 500 Euro brutto sowie rückständige Vergütung für die Zeit von August 2018 bis Juli 2019 von monatlich 500 Euro brutto. Sie meint, die Beklagte müsse ihr ein ebenso hohes Grundentgelt zahlen wie ihrem fast zeitgleich eingestellten männlichen Kollegen. Dies folge daraus, dass sie die gleiche Arbeit wie ihr männlicher Kollege verrichte. Wegen der Benachteiligung aufgrund des Geschlechts schulde sie ihr zudem die Zahlung einer angemessenen Entschädigung von mindestens 6.000 Euro. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen.
Erfolg vor dem Bundesarbeitsgericht
Die Revision der Klägerin hatte vor dem BAG ganz überwiegend Erfolg. Der Arbeitgeber hat die Arbeitnehmerin in der Zeit von März bis Oktober 2017 sowie im Juli 2018 dadurch aufgrund ihres Geschlechts benachteiligt, dass sie ihr, obgleich die Klägerin und der männliche Kollege gleiche Arbeit verrichteten, ein niedrigeres Grundentgelt gezahlt hat als dem männlichen Kollegen. Die Klägerin hat deshalb einen Anspruch auf das gleiche Grundentgelt wie ihr männlicher Kollege. Der Umstand, dass die Klägerin für die gleiche Arbeit ein niedrigeres Grundentgelt erhalten hat als ihr männlicher Kollege, begründet die Vermutung, dass die Benachteiligung aufgrund des Geschlechts erfolgt ist. Der Beklagten ist es nicht gelungen, diese Vermutung zu widerlegen. Insbesondere kann sich die Beklagte für den Zeitraum von März bis Oktober 2017 nicht mit Erfolg darauf berufen, das höhere Grundentgelt des männlichen Kollegen beruhe nicht auf dem Geschlecht, sondern auf dem Umstand, dass dieser ein höheres Entgelt ausgehandelt habe. Für den Monat Juli 2018 kann die Beklagte die Vermutung der Entgeltbenachteiligung aufgrund des Geschlechts insbesondere nicht mit der Begründung widerlegen, der Arbeitnehmer sei einer besser vergüteten ausgeschiedenen Arbeitnehmerin nachgefolgt.
Anspruch auf höheres Entgelt und Entschädigung wegen Benachteiligung
Für den Zeitraum seit dem 1.8.2018 ergibt sich der höhere Entgeltanspruch der Klägerin bereits aus dem Tarifvertrag. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die „Deckelungsregelung“ auf die Klägerin nicht anwendbar, weil diese zuvor kein tarifliches, sondern ein einzelvertraglich vereinbartes Entgelt erhalten hat. Das BAG hat dem auf Zahlung einer Entschädigung gerichteten Antrag der Klägerin teilweise entsprochen. Er hat ihr eine Entschädigung wegen einer Benachteiligung aufgrund des Geschlechts von 2.000 Euro zugesprochen.
Quelle | BAG, Urteil vom 16.2.2023, 8 AZR 450/21, PM 10/23
Vergütungskürzung: Arbeitspflichten im Verein: Arbeitsrecht ist zu beachten
Auch, wenn Arbeitsleistungen in Vereinen aufgrund einer mitgliedschaftlichen Verpflichtung erbracht werden, dürfen arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen nicht umgangen werden. Das hat das Oberlandesgericht (OLG) Schleswig-Holstein klargestellt.
Ein Verein hatte für Kanalsteurer auf dem Nord-Ostsee-Kanal die von der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes eingezogenen Entgelte an seine Mitglieder ausgeschüttet. Der Verein bestimmte per Satzungsklausel zur Vergütung der Kanalsteurer für eine einzelne Gehaltsgruppe eine Kürzung um 30 Prozent. Ein Mitglied klagte und bekam vor dem OLG Recht. Der Beschluss der Mitgliederversammlung habe die schutzwürdigen Belange des Mitglieds unangemessen beeinträchtigt. Er habe gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstoßen.
Der Verein umging zudem zwingende arbeitsrechtliche Vorschriften. Wäre das Mitglied aufgrund eines Arbeitsvertrags statt der Vereinsmitgliedschaft tätig geworden, wäre es vor einer einseitigen Gehaltskürzung geschützt gewesen. Der Verein hätte die Vergütung nur im Rahmen einer Änderungskündigung – mit gesetzlichen Mindestkündigungsfristen – kürzen können.
Quelle | OLG Schleswig-Holstein, Urteil vom 15.2.2023, 9 U 127/22
Arbeitsplatzverlust: Ermäßigte Besteuerung von Abfindungen nur bei Zusammenballung der Einkünfte
Nach ständiger Rechtsprechung kann eine Abfindung für den Arbeitsplatzverlust nur dann ermäßigt besteuert werden, wenn sie zu einer Zusammenballung von Einkünften führt. Das Finanzgericht (FG) Niedersachsen hält diese Sichtweise bzw. Handhabung nicht für verfassungswidrig.
Scheidet ein Arbeitnehmer auf Veranlassung des Arbeitgebers vorzeitig aus dem Dienstverhältnis aus und erhält er eine Abfindung, kann es sich hierbei um
- „normal“ zu besteuernden Arbeitslohn i. S. des Einkommensteuergesetzes (§ 19 EStG) oder
- um steuerbegünstigte Entschädigungen (nach § 24 Nr. 1 EStG) handeln.
Letztere können als außerordentliche Einkünfte (§ 34 EStG) einem ermäßigten Steuersatz (Fünftelregelung) unterliegen.
Eine Entschädigung ist aber nur dann tarifbegünstigt, wenn sie zu einer Zusammenballung von Einnahmen innerhalb eines Veranlagungszeitraums führt. Diese Voraussetzung ist dann nicht erfüllt, wenn die anlässlich der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses gezahlte Entschädigung die bis zum Ende des Veranlagungszeitraums (Jahresende) entgehenden Einnahmen nicht übersteigt und der Steuerpflichtige keine weiteren Einnahmen bezieht, die er bei Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht bezogen hätte.
Beachten Sie | Maßgeblich ist, ob der Steuerpflichtige infolge der Beendigung des Arbeitsverhältnisses in dem jeweiligen Veranlagungszeitraum insgesamt mehr erhält, als er bei ungestörter Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erhalten hätte.
Quelle | FG Niedersachsen, Urteil vom 17.3.2023, 15 K 19/21
Baurecht
Klimaschutz: Kleinwindenergieanlagen für den Eigenbedarf sind im Außenbereich privilegiert
Kleinwindenergieanlagen können als privilegierte Vorhaben im Außenbereich zugelassen werden, unabhängig von der Frage, ob der mit ihnen produzierte Strom zum Eigenbedarf verwendet oder ins öffentliche Stromnetz eingespeist werden soll. Dies ergibt sich aus einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts (VG) Koblenz.
Das war geschehen
Die Kläger beantragten für ihr im Außenbereich liegendes Grundstück die Erteilung eines Bauvorbescheides für die Errichtung von vier Kleinwindenergieanlagen (KWEA) mit einer jeweiligen Gesamthöhe von 6,5 m. Diesen lehnte der Beklagte u. a. mit dem Argument ab, die KWEA seien nicht als im Außenbereich privilegierte Vorhaben zu behandeln, da hierunter nur solche Windenergieanlagen zu fassen seien, die der öffentlichen Versorgung dienten. Eine Einspeisung des Stroms in das öffentliche Stromnetz sei von den Klägern jedoch nicht beabsichtigt. Zudem stünden öffentliche Belange dem Vorhaben entgegen.
Strom sollte noch zu gründende Imkerei betreiben
Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren verfolgten die Kläger ihr Begehren im Klageverfahren weiter und trugen vor, ihr Vorhaben sei bereits deshalb genehmigungsfrei, weil es einem landwirtschaftlichen Betrieb diene. Sie beabsichtigten die Errichtung eines ökologisch ausgerichteten Imkereibetriebs, der mit dem aus der KWEA gewonnenen Strom betrieben werden solle. Jedenfalls hätten sie einen Anspruch auf Erteilung des Bauvorbescheids.
Start der Imkerei erst für 2027 geplant
Die Klage hatte teilweise Erfolg. Zwar sei das Vorhaben genehmigungspflichtig, da es keinem landwirtschaftlichen Betrieb im Sinne des Gesetzes diene, so das VG. Denn ein vernünftiger Landwirt würde unter Berücksichtigung des Gebots größtmöglicher Schonung des Außenbereichs zunächst den Betrieb gründen, alle hierfür zwingend erforderlichen Maßnahmen durchführen und erst danach dem Betrieb dienende KWEA errichten. Die Kläger hätten hingegen bereits mit der Errichtung der KWEA begonnen, obwohl sie nach ihrem Betriebsplan erst ab dem Jahr 2027 die Energie von vier KWEA für die Imkerei benötigten.
KWEA-Vorhaben war aus anderen Gründen privilegiert
Das Vorhaben sei jedoch nach dem Baugesetzbuch (hier: § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB) privilegiert, weil es der Nutzung der Windenergie diene. Sowohl dem Wortlaut als auch der Systematik der gesetzlichen Vorschrift lasse sich ein Ausschluss von Kleinwindenergieanlagen zur Deckung des Eigenbedarfs nicht entnehmen. Schließlich spreche auch der Sinn und Zweck des Privilegierungstatbestandes – die Förderung der Windenergie als positiven Beitrag zum Klimaschutz – für dieses Verständnis. Öffentliche Belange, die Gegenstand der Bauvoranfrage seien, ständen dem Vorhaben nicht entgegen. Weder verursachten die Anlagen eine erhebliche Verunstaltung des Landschaftsbilds – zumal die Kläger eine farbliche Anpassung an die sich in der Nähe befindlichen Bäume angeboten hätten – noch sei die Verfestigung einer Splittersiedlung zu befürchten.
Das VG hat die Berufung zugelassen.
Quelle | VG Koblenz, Urteil vom 27.2.2023, 1 K 604/22.KO, PM 6/23
Architektenhaftung: Leistungsphase 8: Einweisung ist Pflicht
Das Oberlandesgericht (OLG) Jena hat jetzt klargestellt: Selbst bei einfachen, gängigen Tätigkeiten, die für die Funktionalität der Gesamtwerkleistung nicht wichtig sind, sind stichprobenartige Kontrollen erforderlich. Folglich besteht die Bauüberwachungspflicht des Architekten auch bei handwerklichen Selbstverständlichkeiten. Sie ist nur bei der Kontrolldichte herabgesetzt.
Bei allen handwerklichen Selbstverständlichkeiten schulden Architekten zumindest eine Einweisung, die Vornahme von Stichproben und eine Endkontrolle. Das hatte der Architekt im Fall des OLG versäumt. Er hatte Putzarbeiten nicht überwacht, weil er meinte, bei solchen handwerklichen Selbstverständlichkeiten bestehe keine Überwachungspflicht. Das OLG bezog sich auf die gängige Rechtsprechung. Es machte den Architekten für Risse im Bauwerk schadenersatzpflichtig. Im Zuge der Putzarbeiten hätte ihm auffallen müssen, dass die Dämmung im Bereich der Stürze mit einem normalen Dämmstoff ohne einen Putzträger ausgebildet worden war.
Quelle | OLG Jena, Urteil vom 17.2.2022, 8 U 1133/20
Familien- und Erbrecht
Eheliche Lebensgemeinschaft: Keine Unterhaltsvorschussleistungen bei nur räumlicher Trennung der Eltern
Eine räumliche Trennung der Eheleute stellt kein Getrenntleben dar, solange sie eine häusliche Gemeinschaft herstellen wollen. Das hat nun das Oberverwaltungsgericht (OVG) Lüneburg entschieden.
Räumliche Trennung kurz nach der Hochzeit
Die Klägerin meinte, dass ihr ein Anspruch auf Unterhaltsvorschussleistungen in der Zeit vom 1.8.19 bis 24.10.20 zugestanden habe, da sie in dieser Zeit getrennt von ihrem Mann gelebt habe. Sie hatte den Mann am 31.7.19 im Libanon geheiratet. Erst ab dem 25.10.20 sei er zu ihr nach Deutschland gezogen. Das Verwaltungsgericht (VG) und auch das OVG sahen das anders.
Häusliche Gemeinschaft sollte hergestellt werden und wurde es auch
Die Frau war nicht dauerhaft von ihrem Mann getrennt. Maßgeblich dafür ist allein die zivilrechtliche Definition des Bürgerlichen Gesetzbuchs (hier: § 1567 Abs. 1 BGB). Danach gilt ein Elternteil, bei dem das Kind lebt, u. a. als dauernd getrennt lebend „wenn im Verhältnis zum Ehegatten oder Lebenspartner ein Getrenntleben i. S. d. § 1567 BGB vorliegt“.
Ehegatten leben folglich getrennt, wenn zwischen ihnen keine häusliche Gemeinschaft besteht und ein Ehegatte sie erkennbar nicht herstellen will, weil er die eheliche Lebensgemeinschaft ablehnt. Die Eheleute wollten aber eine häusliche Gemeinschaft herstellen. Die Frau hatte eingeräumt, dass der Mann bei ihr eingezogen war.
Quelle | OVG Lüneburg, Beschluss vom 15.12.2022, 14 PA 359/22
Ehegattentestament: Voraussetzungen einer Pflichtteilsstrafklausel
Pflichtteilsstrafklauseln in gemeinschaftlichen Testamenten sollen den Nachlass für den überlebenden Ehegatten möglichst ungeschmälert erhalten. Wird die Verwirkung der Pflichtteilsklausel von den Testierenden nicht nur an das Verlangen des Pflichtteils, sondern auch an den Erhalt des Pflichtteils geknüpft, setzt die Verwirkung der Klausel einen tatsächlichen Mittelabfluss voraus. Ohne Mittelabfluss besteht kein Sanktionierungsgrund. So sieht es das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main.
Beanspruchen des Pflichtteils sollte sich nachteilig auswirken
Die Erblasserin hatte mit ihrem vorverstorbenen Ehemann ein privatschriftliches gemeinschaftliches Testament errichtet. Sie hatte aus einer früheren Ehe eine Tochter, ihr verstorbener Ehemann hatte aus früheren Ehen zwei Töchter. Die Eheleute setzten sich gegenseitig zu Alleinerben ein. Weiter hieß es: „Wir gehen davon aus, dass unsere Kinder keinen Anspruch auf einen Pflichtteil nach dem Tod des erstverstorbenen Elternteils erheben. Nach dem Tod des überlebenden Partners wird das Vermögen unter den Kindern (...Namen der drei Töchter) zu gleichen Teilen aufgeteilt. Ausgenommen ist dabei das Kind, das einen Pflichtteil beansprucht und erhalten hat.“
Die Tochter der Erblasserin beantragte einen Erbschein, der sie und eine der zwei Töchter des vorverstorbenen Ehemanns zu je 1/2 als Erbinnen ausweisen soll. Sie meint, die weitere Tochter sei nicht Erbin der Erblasserin geworden sei, da sie nach dem Tod ihres Vaters ihren Pflichtteil geltend gemacht habe.
Erbanspruch nicht verwirkt
Das Nachlassgericht hat den Erbscheinsantrag der Tochter der Erblasserin zurückgewiesen. Die hiergegen eingelegte Beschwerde hatte auch vor dem OLG keinen Erfolg. Gemäß der testamentarischen Schlusserbenbestimmung seien alle drei Töchter Erbinnen zu jeweils einem Drittel geworden, bestätigte das OLG. Die dritte Tochter habe ihren Erbanspruch nicht verwirkt. Nach dem Testament sollte dasjenige Kind von der Schlusserbschaft ausgenommen werden, das nach dem Tod des Erstversterbenden seinen Pflichtteil beansprucht und erhalten hat. Voraussetzung für das Auslösen der Sanktionswirkung sei damit – abweichend von den üblichen Klauseln – nicht nur die Geltendmachung des Pflichtteils, sondern zusätzlich ein Mittelabfluss vom Nachlassvermögen. Ob die Tochter hier überhaupt ihren Pflichtteil geltend gemacht habe, könne offenbleiben. Jedenfalls habe sie nicht ihren Pflichtteil und auch sonst nichts aus dem Nachlassvermögen erhalten.
Der Hinweis der anderen Töchter, sie habe ihren Pflichtteil erhalten, dieser sei aber „gleich null“ gewesen, überzeuge nicht. Ein „ins Leere gehender bzw. wertloser Pflichtteil … (löse) nicht die Sanktionswirkung der testamentarischen Pflichtteilsklausel aus“. Durch das zusätzliche Erfordernis des „Erhaltens“ hätten die Eheleute deutlich gemacht, dass es ihnen „um das Zusammenhalten des Nachlassvermögens, dessen Werthaltigkeit und den Schutz des überlebenden Ehegatten“ gegangen sei. Wenn die Tochter nichts aus dem Nachlass erhalten habe, sei der Nachlass nicht geschmälert und es bestehe nach dem Willen der Ehegatten kein Grund für eine Sanktionierung.
Die Entscheidung ist nicht anfechtbar.
Quelle | OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 21.2.2023, 21 W 104/22, PM 13/23
Teil-Erbauseinandersetzung: Miterben bleiben Vertragspartner des Mieters
Im Mietrecht herrscht der Grundsatz „Kauf bricht nicht Miete“. Das bedeutet: Veräußert der Vermieter den vermieteten Wohnraum nach der Überlassung an den Mieter an einen Dritten, tritt der Erwerber anstelle des Vermieters in die sich während der Dauer seines Eigentums aus dem Mietverhältnis ergebenden Rechte und Pflichten ein. Dieser Grundsatz ist aber auf die Erbauseinandersetzung weder unmittelbar noch entsprechend anwendbar. Das hat jetzt das Amtsgericht (AG) Köln entschieden.
Das war geschehen
Eine Miterbengemeinschaft bestand aus drei Personen. Zum Nachlass gehörte eine vermietete Wohnung. Die Erbengemeinschaft übertrug einem Miterben die Wohnung im Wege einer Teil-Erbauseinandersetzung. Das bestehende Mietverhältnis wurde übernommen. Der Miterbe ging davon aus, alleiniger Vermieter geworden zu sein. Er kündigte den Mietvertrag wegen Eigenbedarfs, da seine 19 Jahre alte Tochter die Wohnung beziehen wollte. Die Mieter widersprachen der Kündigung.
Räumungsklage scheiterte: Erbauseinandersetzung wirkt sich nicht auf Dritte aus
Die Räumungsklage scheiterte vor dem AG. Die Eigenbedarfskündigung habe das Mietverhältnis nicht beendet. Bei einer Mehrheit von Vermietern müsse die Kündigung, um wirksam zu sein, von allen Vermietern ausgesprochen werden, es sei denn, es bestehe eine wirksame Ermächtigung des einen Vermieters durch die jeweils anderen. Dies sei hier nicht der Fall. Der klagende Miterbe sei nicht alleiniger Vermieter der Wohnung. Das Mietverhältnis sei auf die Mitglieder der Erbengemeinschaft übergegangen. Auch durch die Teil-Erbauseinandersetzung sei der Kläger nicht alleiniger Vermieter geworden. Es existiere kein Grundsatz, wonach die Erbauseinandersetzung auf Schuldverhältnisse des Erblassers mit Dritten wirke. Der Kläger vermenge insoweit die dingliche Rechtslage bzw. schuldrechtliche Abreden der Erben im Innenverhältnis. Der Mietvertrag habe ab dem Versterben zwischen dem Kläger und den weiteren Erben als Personenmehrheit auf Vermieterseite einerseits und den beklagten Mietern als Personenmehrheit auf Mieterseite andererseits bestanden.
Quelle | AG Köln, Urteil vom 9.1.2023, 203 C 144/22
Mietrecht und WEG
Mietende: Kündigung: Einwurf in Briefkasten um 22:30 Uhr ist zu spät
Eine schriftliche Kündigung eines Wohnraummietvertrags geht nicht schon am dritten Werktag zu, wenn der Kündigende sie um 22:30 Uhr in den Briefkasten des Empfängers wirft und diesen mündlich über den Einwurf und den Inhalt informiert. So sieht es das Landgericht (LG) Krefeld.
Darüber stritten die Parteien
Die Parteien stritten nach beendetem Mietverhältnis über die Höhe der Kautionsrückzahlung. Der Vermieter meinte, er könne mit der Miete für Mai 2020 aufrechnen. Die Mieterin wandte ein, dass das Mietverhältnis bereits zum 30.4.2020 beendet war, ein Mietzahlungsanspruch für Mai 2020 somit nicht bestehe. Der Vermieter argumentierte, dass das Mietverhältnis durch die Kündigung vom 4.2.2020 erst zum Ablauf des 31.5.2020 beendet worden sei, da ihm die Kündigung erst am 5.2.2020 zugegangen sei. Bei dem unstreitigen Einwurf des Briefes am 4.2.2020 um 22:30 Uhr sei nicht mehr mit einer Entnahme am selben Tag, sondern erst am darauffolgenden Tag zu rechnen gewesen. Die Mieterin entgegnete, sie habe den Vermieter unmittelbar vor Einwurf der Kündigung in den Briefkasten über die Gegensprechanlage über den bevorstehenden Einwurf informiert, was dieser bestritt.
Amtsgericht und Landgericht einig
Das Amtsgericht (AG) gab dem Vermieter Recht. Das LG bestätigt dessen Urteil. Der Vermieter habe gegenüber dem Kautionsrückzahlungsanspruch der Mieterin mit seiner Mietzahlungsforderung für Mai 2020 wirksam aufgerechnet. Das Mietverhältnis sei durch die Kündigung vom 4.2.2020 erst zum Ablauf des 31.5.2020 beendet worden.
Kündigung kam zu spät: Kenntnisnahme war nicht mehr möglich
Die Kündigung sei spätestens am dritten Werktag eines Kalendermonats zum Ablauf des übernächsten Monats zulässig, wobei die Wirksamkeit der Kündigungserklärung vor allem deren Zugang voraussetzt. Vorliegend sei die Kündigung erst am 5.2.2020 und damit am vierten Werktag des Monats zugegangen, sodass das Mietverhältnis erst zum Ablauf des 31.5.2020 beendet gewesen sei. Durch den Einwurf der Kündigungserklärung am 4.2.2020 um 22:30 Uhr in den Briefkasten der Wohnung des Vermieters sei diese in den Machtbereich des Vermieters gelangt. Wann unter normalen Umständen mit einer Kenntnisnahme vom Inhalt der Erklärung durch den Vermieter zu rechnen gewesen sei, richte sich danach, wann nach den gewöhnlichen Verhältnissen mit der Leerung des Briefkastens durch ihn zu rechnen war. Dabei sei nicht auf die individuellen Verhältnisse des Empfängers abzustellen, sondern im Interesse der Rechtssicherheit zu generalisieren. Nur bis um 18:00 Uhr in den Briefkasten eingeworfene Briefe gelten demnach als noch am selben Tag zugegangen.
Quelle | LG Krefeld, Urteil vom 21.9.2022, 2 S 27/21
Mietminderung: Wenn es aus der Nachbarwohnung riecht
Dringen durch Öffnungen, Risse usw. in der Decke einer Wohnung Kochgerüche in das Schlafzimmer der darüber liegenden Wohnung, kann der Mieter der oberhalb liegenden Wohnung die Behebung dieses baulichen Mangels verlangen und bis zur erfolgten Mangelbeseitigung die Miete um 10 Prozent mindern. So sieht es das Amtsgericht (AG) Berlin-Mitte.
Das AG: Die Verbreitung von Küchengerüchen allein stellt noch keinen Mietmangel dar. Dieser sei jedoch zu bejahen, wenn es sich um eine erhebliche oder durchgängige Belastung des Geruchsempfindens handle.
Die eindringenden Gerüche störten insbesondere die Nachtruhe, da der Nutzer der unteren Wohnung sehr häufig zur Nachtzeit kochte. Die Gerüche seien so intensiv, „als würde man direkt neben dem Herd stehen“. Auch die von dem gerichtlich beauftragten Sachverständigen vorgenommene Nebelprobe habe „eine deutliche bzw. erhebliche Undichtigkeit der Geschossdecke“ gezeigt. Es liege eine besonders intensive Beeinträchtigung des Mietgebrauchs vor, wenn man den Gerüchen „machtlos, nicht vorhersehbar (und) während der Ruhezeiten ausgesetzt“ sei. Angesichts der Tatsache, dass die Belästigung nicht durchgängig, sondern nur temporär erfolge und nur im Schlafzimmer, allerdings dort „sehr massiv“, sei eine Mietminderung in Höhe von 10 Prozent angemessen.
Quelle | AG Berlin-Mitte, Urteil vom 13.10.2022, 122 C 156/219
WEG-Beschlussfassung: Bestellung eines Verwalters setzt konkreten Tagesordnungspunkt voraus
Ein Tagesordnungspunkt „Bestellung der Verwaltung: interne Verwaltung - externe Verwaltung“ deckt die Bestellung eines konkreten Wohnungseigentümers zum Verwalter auch dann nicht, wenn sie in einer Vollversammlung erfolgt. So sieht es das Amtsgericht (AG) Essen-Steele.
Verwalterbestellung angefochten
Dieser Tagesordnungspunkt war Gegenstand eines Beschlusses der Wohnungseigentümergemeinschaft. In der Versammlungsniederschrift wurde dokumentiert, dass mehrheitlich einer der Wohnungseigentümer über fünf Jahre zum Verwalter bestellt wurde. Die Anfechtung der Verwalterbestellung hatte Erfolg. Der Beschluss sei wegen eines formellen Mangels ungültig, so das AG.
So konkret muss die Einladung sein
Der Gegenstand der Beschlussfassung muss bei der Einberufung der Eigentümerversammlung aufgeführt werden. Es ist erforderlich, aber auch ausreichend, wenn die Tagesordnungspunkte und die vorgesehenen Beschlüsse so genau bezeichnet werden, dass die Wohnungseigentümer verstehen und überblicken können, was in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht erörtert und beschlossen werden soll und welche Auswirkungen der Beschluss auf die Gemeinschaft und sie selbst hat. In der Regel genügt dazu – jedenfalls bei einfachen Sachverhalten – eine schlagwortartige Bezeichnung, so das AG. Die Wohnungseigentümer haben auch mit naheliegenden, mit der Bezeichnung eng verbundenen Beschlüssen zu rechnen. Je bedeutsamer der Gegenstand der Beschlussfassung für die einzelnen Wohnungseigentümer ist, desto genauer ist er in der Einladung zu bezeichnen.
Im vorliegenden Fall genügte der gemeinsam verfasste o. g. Tagesordnungspunkt mit Blick auf die – insoweit fast überraschende – protokollierte Beschlussfassung diesen Vorgaben nicht. Weil über die zentrale Funktion in der Wohnungseigentümergemeinschaft entschieden werden sollte, also eine bedeutsame Entscheidung anstand, wäre eine konkrete Fassung des Tagesordnungspunkts erforderlich gewesen.
Quelle | AG Essen-Steele, Urteil vom 3.5.2023, 21 C 21/22
Verbraucherrecht
Fehlender Informationsaustausch: Guthaben war schon ausbezahlt: Trotz Sparbuch kein Geld
“Wenn die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut“: Eine Bankkundin kann von ihrem Geldinstitut trotz Vorlage eines Sparbuchs keine Auszahlung einer Spareinlage von 70.100 Euro verlangen, wenn zuvor der Ehemann das Guthaben telefonisch auf Festgeldkonten umgeleitet hat. Das hat das Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe entschieden.
Das war geschehen
Im Jahr 1992 hatte die Klägerin bei der beklagten Bank ein Sparkonto eröffnet. Als letzte Eintragung in ihrem Sparbuch ist am 21.3.1997 eine Zinsgutschrift von 2.639,72 DM zum 30.12.1996, eine Bareinzahlung von 33.193,41 DM sowie ein Guthaben von 100.000 DM ausgewiesen. Die Klägerin hatte im Januar 2020 den Sparvertrag gekündigt, der Bank das nicht entwertete Sparbuch vorgelegt und die Auszahlung von 70.100 EUR verlangt. Die beklagte Bank hatte dagegen geltend gemacht, sie habe das Sparbuch am 16.4.1998 auf telefonische Weisung des dazu bevollmächtigten Ehemanns der Klägerin aufgelöst, das damalige Guthaben samt aufgelaufener Zinsen auf dem ebenfalls bei ihr geführten Girokonto der Klägerin als Bareinzahlung verbucht und den Betrag anschließend für die Klägerin und ihren Ehemann jeweils hälftig als Festgeld angelegt.
Das Landgericht (LG) wies die Klage nach Vernehmung der damals tätigen Bankmitarbeiter ab, weil es sich davon überzeugt hatte, dass das Guthaben am 16.4.1998 ausgezahlt und damit der Anspruch der Klägerin aus dem Sparvertrag erfüllt wurde.
Kreditinstitut hat die Beweislast
Die gegen das Urteil des LG erhobene Berufung der Klägerin hatte vor dem OLG keinen Erfolg. Eine Bank darf zwar nicht schon deshalb die Auszahlung des in einem Sparbuch dokumentierten Guthabens verweigern, weil lange Zeit keine Eintragungen in dem Sparbuch vorgenommen wurden und die handelsrechtlichen Aufbewahrungspflichten abgelaufen sind. Vielmehr muss das Kreditinstitut auch in solchen Fällen beweisen, dass die Auszahlung des Sparbetrags bereits erfolgt ist. Die Unrichtigkeit eines Sparbuchs kann die Bank dabei nicht allein mit ihren internen Unterlagen nachweisen. Kommen jedoch weitere Umstände hinzu, kann dies zum Beweis genügen.
Sparbuchbetrag wurde nachweislich ausgezahlt
Dazu gehört im jetzt entschiedenen Fall insbesondere der Eingang eines Betrags auf einem anderen Konto der Berechtigten, der exakt der auf dem Sparkonto einschließlich Zinsen vorhandenen Sparsumme entspricht. Die von der Klägerin geäußerte Vermutung, diese auf ihrem Konto verbuchte Bareinzahlung vom 16.4.1998 stamme aus gesammelten Bareinnahmen des damals von den Eheleuten betriebenen Obsthandels, hat nicht zu Zweifeln des OLG an den von der Bank zu den Buchungsvorgängen vorgelegten Unterlagen geführt. Außerdem haben Zeugen, nämlich die damaligen Bankmitarbeiter, die Richtigkeit der bankinternen Dokumente bestätigt. Danach hatte der von der Klägerin bevollmächtigte Ehemann telefonisch die Auflösung des Sparbuchs, die Auszahlung auf das Girokonto und die anschließende Anlage als Festgeld beauftragt. Eine erneute Auszahlung des Geldes kann nicht verlangt werden.
Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Zwar hat das OLG die Revision nicht zugelassen. Gegen diese Entscheidung hat die Klägerin jedoch Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesgerichtshof (BGH) erhoben.
Quelle | OLG Karlsruhe, Urteil vom 20.12.2022, 17 U 151/21, PM 4/23
Vertragsklausel: Makler können Reservierungsgebühren in Allgemeinen Geschäftsbedingungen nicht wirksam vereinbaren
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat entschieden: Die in Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) vereinbarte Pflicht eines Maklerkunden, eine Reservierungsgebühr zu zahlen, ist unwirksam.
Makler verlangte Reservierungsgebühr
Die Kläger beabsichtigten den Kauf eines von der Beklagten als Immobilienmaklerin nachgewiesenen Grundstücks mit Einfamilienhaus. Die Parteien schlossen einen Maklervertrag und im Nachgang dazu einen Reservierungsvertrag, mit dem sich die Beklagte verpflichtete, das Grundstück gegen Zahlung einer Reservierungsgebühr bis zu einem festgelegten Datum exklusiv für die Kläger vorzuhalten. Die Kläger nahmen vom Kauf Abstand und verlangen von der Beklagten die Rückzahlung der Reservierungsgebühr.
Das Amtsgericht (AG) hatte die Klage abgewiesen. Das Landgericht (LG) hatte die Berufung der Kläger zurückgewiesen. Der Reservierungsvertrag sei wirksam. Er stelle eine eigenständige Vereinbarung mit nicht kontrollfähigen Hauptleistungspflichten dar.
Bundesgerichtshof gab Maklerkunden Recht
Der BGH hat die Beklagte auf die Revision der Kläger verurteilt, die Reservierungsgebühr zurückzuzahlen. Der Reservierungsvertrag unterliegt der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle, weil es sich dabei nach dem Inhalt der getroffenen Abreden nicht um eine eigenständige Vereinbarung, sondern um eine den Maklervertrag ergänzende Regelung handelt. Dass der Reservierungsvertrag in Form eines gesonderten Vertragsdokuments geschlossen wurde und später als der Maklervertrag zustande kam, steht dem nicht entgegen.
Der Reservierungsvertrag benachteiligt die Maklerkunden unangemessen und ist daher unwirksam, weil die Rückzahlung der Reservierungsgebühr ausnahmslos ausgeschlossen ist und sich aus dem Reservierungsvertrag weder für die Kunden nennenswerte Vorteile ergeben noch seitens des Immobilienmaklers eine geldwerte Gegenleistung zu erbringen ist. Auch kommt der Reservierungsvertrag der Vereinbarung einer erfolgsunabhängigen Provision zugunsten des Maklers gleich. Das widerspricht dem Leitbild der gesetzlichen Regelung des Maklervertrags, wonach eine Provision nur geschuldet ist, wenn die Maklertätigkeit zum Erfolg geführt hat.
Quelle | BGH, Urteil vom 20.4.2023, I ZR 113/22, PM 70/23
Solaranlage: Verkäufer muss nicht ohne Weiteres darüber aufklären, dass keine Notstromfunktion vorhanden ist
Der Verkäufer einer Photovoltaikanlage muss den Käufer nicht ohne Weiteres darüber aufklären, dass die verkaufte Anlage nur Strom liefert, wenn auch das öffentliche Netz funktioniert. Dies hat das Landgericht (LG) Frankenthal klargestellt. Es hat daher der Kaufpreisklage der Firma gegen den Besteller einer Solaranlage vollumfänglich stattgegeben.
Bei Stromausfall läuft Anlage nicht
Ein Ehepaar wollte vom öffentlichen Stromnetz unabhängig sein und ließ sich eine Photovoltaikanlage auf das Dach des Wohnhauses montieren. Damit die Anlage funktioniert, muss jedoch Strom aus dem öffentlichen Netz bereitstehen: Bei Stromausfall schaltet sich die PV-Anlage automatisch ab. Einheiten, die über eine sog. „Notstrom-“ oder „Inselfunktion“ verfügen, sind erheblich teurer als das bestellte und montierte System.
Umbau möglich, aber teuer
Das Ehepaar war der Ansicht, auf diesen Umstand hätte der Anbieter der Anlage sie hinweisen müssen. Dann hätten sie für 5.000 Euro Aufpreis ein anderes, notstromfähiges System bestellt. Jetzt bestehe nur noch die Möglichkeit, die gelieferte Anlage zu nahezu dem dreifachen des ursprünglichen Aufpreises für diese Funktion umzurüsten. Diese Mehrkosten seien vom Verkäufer zu tragen, weswegen das Ehepaar in dieser Höhe die Zahlung des Kaufpreises verweigerte.
Dem ist das LG nicht gefolgt und hat das Ehepaar verurteilt, den vollen Kaufpreis zu zahlen. Der Verkäufer einer Photovoltaikanlage müsse nicht von sich aus darüber aufklären, dass die Anlage nicht über eine Sonderausstattung verfüge, wie eine Notstromfunktion. Die Aufklärungs- und Beratungspflichten dürften nicht überspannt werden. Dass die Eheleute bei den Vertragsverhandlungen klargemacht hätten, dass es ihnen auf die Notstromfunktion ankomme, haben sie nach Ansicht des LG nicht beweisen können. Etwaige mögliche Energieengpässe könnten zwar zu einer anderen Betrachtung führen. Die seien im Kaufzeitpunkt aber noch kein allgemeines Thema gewesen.
Das Urteil ist rechtskräftig; eine zunächst eingelegte Berufung zum Oberlandesgericht (OLG) Zweibrücken hat das Ehepaar zurückgenommen.
Quelle | LG Frankenthal (Pfalz), Urteil vom 15.8.2022, 6 O 79/22, PM vom 28.2.2023
Verkehrsrecht
Schadensregulierung: Wenn der Versicherer einen gestellten Unfall vermutet
Viele Unfälle sind fingiert – die Versicherungswirtschaft geht davon aus, dass es sogar jeder siebte Unfall ist. „Opfer“ und Täter kennen sich und verabreden sich zu einem „Unfall“ an einem abgelegenen Ort. Damit der Schaden bei der Versicherung geltend gemacht werden kann, holen sie die Polizei, um der Angelegenheit einen offiziellen Charakter zu geben. Oft ist das Schädigerfahrzeug deutlich größer und schwerer als das des „Opfers“, damit einerseits schon eine leichte Berührung bei niedriger Geschwindigkeit einen deutlichen Schaden hervorruft und andererseits so niemand verletzt wird. Oft sieht es aber auch nur nach einem fingierten Unfall aus – so wie in einem aktuellen Fall des Landgerichts (LG) Stuttgart.
Wirtschaftlicher Totalschaden
Auf dem Parkplatz einer Kleingartenanlage hatte ein SUV-Fahrer beim Rangieren nicht aufpasst und ein älteres Fahrzeug eines Kleingartenkollegen so „erwischt“, dass ein wirtschaftlicher Totalschaden vorlag.
Versicherer muss Manipulation beweisen
Das LG Stuttgart: Der Versicherer muss die behauptete Unfallmanipulation beweisen. Es hob hervor, dass jedes vom Versicherer vorgetragene Merkmal auch eine sinnvolle andere Erklärung haben konnte.
Warum fuhr der Schädiger? Unfall am hellen Tag
Für den konkreten Fall bedeutete dies: Der Kleingarten war einerseits nur 850 Meter vom Wohnort entfernt. Warum ist der Kläger also dorthin gefahren, statt zu laufen? Andererseits: Viele Menschen benutzen sogar für kürzere Strecken ihr Auto.
Ein weiteres Indiz, das gegen einen fingierten Unfall sprach: Der Unfall ereignete sich am hellen Tag. Die Parteien handelten also nicht im Verborgenen. Neutrale Zeugen hätten das Unfallgeschehen jederzeit beobachten können. Außerdem fehlen bei vielen Unfällen neutrale Zeugen – sehr zum Leidwesen der Beteiligten.
Polizei herbeigerufen: kein Indiz für einen fingierten Unfall
Weil der SUV ein Leasingfahrzeug war, musste dessen Fahrer sogar die Polizei rufen. Er war hierzu vertraglich verpflichtet.
Größe und Gewicht des Autos
Ein beinahe 5 Meter langer und über 2 Tonnen schwerer SUV ist ein beliebtes Kfz-Modell, keine Rarität. Ein solches Auto führt aber bei – hier vorliegenden – beengten Verhältnissen auf einem Parkplatz zu Rangierfehler-Risiken. Diese hatten sich realisiert.
Für den Geschädigten heißt es hier „Ende gut, alles gut“
Am Ende musste der Versicherer zahlen. Die Einwände des Versicherers prallten am Gericht ab.
Quelle | LG Stuttgart, Urteil vom 12.9.2022, 16 O 35/22
Nutzungsausfallentschädigung: Oldtimer: Zwingend erforderlich für die eigenwirtschaftliche Lebensführung?
Voraussetzung für die Zuerkennung von Nutzungsausfallentschädigung ist, dass es sich um einen Gegenstand für die eigenwirtschaftliche Lebensführung handelt. Oldtimerfahrzeuge sind aber in der Regel Liebhaberstücke und weisen das grundsätzliche Gepräge von nicht für die eigenwirtschaftliche Lebensführung zwingend notwendigen Gegenständen auf. Das kann im Einzelfall anders sein, nämlich wenn der Geschädigte das historische Fahrzeug als Alltagsfahrzeug nutzt. Das muss der Geschädigte allerdings darlegen und ggf. beweisen, entschied das Oberlandesgericht (OLG) Celle.
Subjektive Annehmlichkeiten allein rechtfertigen keinen Nutzungsausfallersatz, der sich als wirtschaftliche Einbuße an objektiven Maßstäben orientieren muss. Andernfalls bestünde die Gefahr, unter Verletzung des Bürgerlichen Gesetzbuchs (§ 253 BGB) die Ersatzpflicht auf Nichtvermögensschäden auszudehnen.
Quelle | OLG Celle, Urteil vom 1.3.2023, 14 U 149/22
Schadenersatz: Kein Abzug „neu für alt“ bei Brillengläsern
Müssen bei einem Verkehrsunfall beschädigte Brillengläser durch neue ersetzt werden, ist kein Raum für einen Abzug „neu für alt“. Zwar kann es zutreffen, dass Brillengläser eine gewisse Lebensdauer haben. Dass durch die neuen Gläser allerdings eine spürbare Vermögensmehrung eingetreten ist, kann dennoch nicht angenommen werden. So sieht es das Amtsgericht (AG) Schwandorf.
Das Argument des AG: Brillengläser werden üblicherweise an das jeweilige Brillengestell angepasst. Auch der Augenabstand wird an den Träger der Brille angepasst. Die Brillengläser können daher schon nicht ohne Weiteres weiterverwendet oder gar weiterverkauft werden, wenn der Brillenträger sich irgendwann für ein neues Gestell entscheidet.
Quelle | AG Schwandorf, Urteil vom 19.4.2023, 2 C 263/22,
Geschwindigkeitsverstöße: Fahrtenbuchauflage kann es auch für den gesamten Fuhrpark geben
Im Fall mehrerer Geschwindigkeitsverstöße von erheblichem Gewicht kann sich die Fahrtenbuchauflage auf den gesamten Fuhrpark eines Halters erstrecken. Das hat das Oberverwaltungsgericht (OVG) Saarland entschieden.
Das OVG hat darauf abgestellt, dass die Geschäftsführung der Halterin für keine der der Anordnung der Fahrtenbuchauflage zugrunde gelegten Geschwindigkeitsüberschreitungen die Fahrer bzw. die als Fahrer jedenfalls in Betracht kommenden Mitarbeiter namentlich benannt hat. Dabei waren die Fotos durchweg sehr deutlich.
Das lässt erkennen, dass für die mangelnde Mitwirkung nicht ein etwaig wechselnder Benutzerkreis ausschlaggebend war und eine daraus resultierende Schwierigkeit, den Fahrzeugführer zum Tatzeitpunkt zu ermitteln. Erkennbar ist vielmehr die bereits im Grundsatz fehlende Bereitschaft der Halterin, ihrer Obliegenheit, an der Aufklärung der mit ihren Fahrzeugen begangenen Verkehrsverstöße so weit mitzuwirken, wie ihr das möglich und zumutbar ist.
Quelle | OVG, Beschluss vom 19.4.2023, 1 B 25/23
Verfolgungsfahrt: Flüchtender Autofahrer haftet auch für beschädigten Streifenwagen
Kommt es bei einer Verfolgungsfahrt mit einem Polizeifahrzeug zu einem Unfall, haftet der verfolgte Autofahrer auch für einen am Polizeiauto entstandenen Schaden. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Fahrweise des Polizeifahrzeugs nicht völlig unangemessen war und sich die Beamten nicht in eine übermäßige Gefahr begeben haben. Das hat das Landgericht (LG) Frankenthal in einem aktuellen Urteil klargestellt. Der Autofahrer wurde zu Schadenersatz in Höhe von rund 15.000 Euro verurteilt.
Verfolgungsjagd führte zu Schäden am Polizeiauto
Der Autofahrer entzog sich einer Verkehrskontrolle und fuhr mit hoher Geschwindigkeit davon. Daraufhin wurde er von einem Streifenwagen verfolgt. Die Verfolgungsjagd führte von der Autobahn über eine Bundesstraße schließlich auf eine Kreisstraße. Nachdem es dem Flüchtenden kurzzeitig gelungen war, außer Sichtweite der Verfolger zu kommen, fuhr er plötzlich von der Kreisstraße ab, durchbrach eine Leitplanke und kam auf einem Parkplatz zum Stehen. Die Polizeibeamten erkannten jedoch das stehende Fahrzeug und bremsten ebenfalls unvermittelt ab, um den Mann zu stellen und eine weitere Flucht zu Fuß zu verhindern. Dabei geriet der Streifenwagen ins Schlingern und schlug ebenfalls gegen die Leitplanke. Den dadurch entstandenen Schaden an dem Polizeifahrzeug wollte das Land Rheinland-Pfalz von dem Mann ersetzt bekommen.
Schaden wird Autofahrer zugerechnet
Das LG gab der Klage des Landes vollumfänglich statt. Der Schaden an dem Streifenwagen sei dem Fluchtverhalten des Mannes und damit dem Betrieb des Fluchtfahrzeugs zuzurechnen. Die Grenze der Zurechnung läge erst dort, wo sich die Verfolger in gänzlich unangemessener Weise einer Gefahr aussetzten. Hier seien aber sowohl die Verfolgung als auch das harte Bremsmanöver geboten gewesen, nachdem der Flüchtende auf dem Parkplatz entdeckt worden war. Der Polizeibeamte habe deshalb beim Bremsen ein gewisses Risiko eingehen dürfen, um das Ziel zu erreichen, den Flüchtenden zu ergreifen.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Es ist Berufung zum Pfälzischen Oberlandesgericht (OLG) in Zweibrücken eingelegt worden.
Quelle | Landgericht Frankenthal (Pfalz), Urteil vom 24.5.2023, 1 O 50/22, PM vom 22.6.2023
Wirtschafts- und Gesellschaftsrecht
Wettbewerb: Gesundheitsmagazin: Ärzte-Siegel gegen Entgelt ist irreführend
Das Landgericht (LG) München hat der Unterlassungsklage der Wettbewerbszentrale hinsichtlich der Verleihung und Publizierung eines sog. „Ärzte-Siegels“ gegen einen Verlag stattgegeben.
Das war geschehen
Der Kläger beanstandete, dass die Beklagte gegen Entgelt an Ärztinnen und Ärzte Siegel verleiht, die sie mit „Top Mediziner“ bzw. „Focus Empfehlung“ auszeichnen. Einmal im Jahr erscheint bei der Beklagten das Magazin „FOCUS Gesundheit“ unter dem Titel „Ärzteliste“. Gegen eine zu bezahlende Lizenz in Höhe von rund 2.000 Euro netto erhalten Ärzte ein Siegel unter der Rubrik „FOCUS EMPFEHLUNG“, das sie sodann werbend benutzen können und dies auch (unter Angabe der Fachrichtung bzw. des Landkreises) tun.
Die Beklagte verstößt durch die Vergabe der Siegel, die nach ihrem eigenen Vortrag von den Ärzten werblich genutzt werden sollen, gegen das lauterkeitsrechtliche Irreführungsverbot. Mit den Siegeln wird bei deren angesprochenen Verkehrskreisen der Eindruck erweckt, dass die betreffenden Ärzte, die als „TOP-Mediziner“ bezeichnet bzw. mit „FOCUS-Empfehlung“ angepriesen werden, aufgrund einer neutralen und sachgerechten Prüfung ausgezeichnet wurden und dadurch eine Spitzenstellung unter den Ärzten gleicher Fachdisziplin einnehmen. Die von der Beklagten gegen Bezahlung einer erheblichen sog. Lizenzgebühr vergebenen Siegel haben die Aufmachung eines Prüfzeichens und werden in den vorgelegten Medien auch als solche werbend verwendet.
Landgericht: Verbraucher verbindet mit Prüfsiegel Erwartungen
Hierzu führt das LG Folgendes aus: Die angesprochenen Verkehrskreise würden die Siegel, die von der Beklagten lizenziert werden, ähnlich wie Prüfsiegel der Stiftung Warentest auffassen und davon ausgehen, die betreffenden Ärzte seien aufgrund einer neutralen und sachgerechten Prüfung ausgezeichnet worden. Nach der Lebenserfahrung habe der Hinweis auf ein Prüfzeichen für die geschäftliche Entscheidung des Verbrauchers eine erhebliche Bedeutung. Der Verbraucher erwarte, dass ein mit einem Prüfzeichen versehenes Produkt oder eine Dienstleistung von einer neutralen und fachkundigen Stelle auf die Erfüllung von Mindestanforderungen anhand objektiver Kriterien geprüft wurde und bestimmte, von ihm für die Güte und Brauchbarkeit der Ware als wesentlich angesehener Eigenschaften aufweisen.
Tatsächlich sei es aber selbst nach dem Vortrag der Beklagten so, dass sich die Qualität ärztlicher Dienstleistungen nicht mit Messgeräten im Testlabor ermitteln und vergleichen lasse. Vielmehr seien von den Kriterien, die nach dem Vortrag der Beklagten bei ihren Empfehlungslisten berücksichtigt würden, Kriterien dabei, die auf ausschließlich subjektiven Elementen beruhten, wie z. B. die Kollegenempfehlung oder die Patientenzufriedenheit.
Die Beklagte könne auch nicht damit gehört werden, die Lizenzierung sog. Siegel sei ein unselbstständiger, nachgelagerter Akt der Ärztelisten, der ebenfalls von der Pressefreiheit umfasst sei. Die Wettbewerbswidrigkeit der Prüfsiegel ergebe sich daraus, dass in irreführender Weise der Bereich des redaktionellen, wertenden Beitrags verlassen und der Eindruck erweckt wird, es finde eine Bewertung nach objektiven Kriterien statt.
Prüfsiegel gegen Entgelt gehört nicht zwingend zur Finanzierung von Medien
Hinzu komme, dass Medien zwar regelmäßig darauf angewiesen sind, sich durch Anzeigen zu finanzieren, nicht jedoch durch die Vergabe von Prüfsiegeln gegen ein nicht unerhebliches Entgelt. Dass dies eine unübliche, nicht zwingend erforderliche Art der Finanzierung redaktioneller Beiträge ist, zeigt der eigene Vortrag der Beklagten, wonach die Verteilung der Siegel erst eine Reaktion auf den vor etwa zehn Jahren eingetretenen sogenannten „Wildwuchs“ gewesen sei. Davor wurden die Magazine mit den Ärztelisten ganz offensichtlich anders finanziert.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Quelle | LG München I, Urteil vom 13.2.2023, 4 HKO 14545/21, PM 6/23
Sozialversicherungsbeiträge: Neue Beitragssätze in der Pflegeversicherung ab 1.7.2023
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat im Jahr 2022 entschieden: Es ist mit dem Grundgesetz unvereinbar, dass beitragspflichtige Eltern in der sozialen Pflegeversicherung unabhängig von der Zahl der von ihnen betreuten und erzogenen Kinder mit gleichen Beiträgen belastet werden. Demzufolge wurde der Gesetzgeber aufgefordert, eine Neuregelung zu treffen. Dies ist nun mit Wirkung ab dem 1.7.2023 erfolgt.
Bisherige Beitragssätze
Bislang galten in der Pflegeversicherung folgende Beitragssätze (unterteilt nach Arbeitgeber (AG) und Arbeitnehmer (AN)):
- Allgemein: 3,05 % (AG: 1,525 %; AN: 1,525 %)
- Kinderlose: 3,40 % (AG: 1,525 %; AN: 1,875 %)
- Allgemein Sachsen: 3,05 % (AG: 1,025 %; AN: 2,025 %)
- Kinderlose Sachsen: 3,40 % (AG: 1,025 %; AN: 2,375 %)
Neue Beitragssätze
Ab Juli 2023 ist Folgendes zu beachten: Bei kinderlosen Mitgliedern gilt ein Beitragssatz von 4 %. Bei Mitgliedern mit einem Kind sind 3,4 % maßgebend. Ab zwei Kindern wird der Beitrag während der Erziehungsphase um 0,25 % je Kind bis zum fünften Kind weiter abgesenkt (max. also 1 %). Der Abschlag gilt aber nur bis zum Ablauf des Monats, in dem das jeweilige Kind das 25. Lebensjahr vollendet hat.
Das heißt für Mitglieder
- ohne Kinder: 4 % (AG: 1,7 %; AN: 2,3 %)
- mit einem Kind: 3,40 % (lebenslang: AG: 1,7 %; AN: 1,7 %)
- mit zwei Kindern: 3,15 % (AG: 1,7 %; AN: 1,45 %)
- mit drei Kindern: 2,90 % (AG: 1,7 %; AN: 1,2 %)
- mit vier Kindern: 2,65 % (AG: 1,7 %; AN: 0,95 %)
- ab fünf Kindern: 2,4 % (AG: 1,7 %; AN: 0,7 %)
In Sachsen zahlen AG 1,2 %. Zieht man vom jeweiligen Gesamtbeitrag den AG-Anteil ab, ergibt sich der jeweilige AN-Anteil, z. B. für Mitglieder ohne Kinder: 4 % (AG: 1,2 %; AN: 2,8 %).
Quelle | Gesetz zur Unterstützung und Entlastung in der Pflege, BR-Drs. 220/23 (B) vom 16.6.2023
Berechnung der Verzugszinsen
Für die Berechnung der Verzugszinsen ist seit dem 1. Januar 2002 der Basiszinssatz nach § 247 BGB anzuwenden. Seine Höhe wird jeweils zum 1. Januar und 1. Juli eines Jahres neu bestimmt. Er ist an die Stelle des Basiszinssatzes nach dem Diskontsatz-Überleitungsgesetz (DÜG) getreten.
Der Basiszinssatz für die Zeit vom 1. Juli 2023 bis zum 31. Dezember 2023 beträgt 3,12 Prozent. Damit ergeben sich folgende Verzugszinsen:
- für Verbraucher (§ 288 Abs. 1 BGB): 8,12 Prozent
- für den unternehmerischen Geschäftsverkehr (§ 288 Abs. 2 BGB): 12,12 Prozent*
- für Schuldverhältnisse, die vor dem 29.7.2014 entstanden sind: 9,62 Prozent.
Nachfolgend ein Überblick zur Berechnung von Verzugszinsen (Basiszinssätze).
Übersicht / Basiszinssätze
Zeitraum | Zinssatz |
---|---|
01.01.2023 bis 30.06.2023 | 1,62 Prozent |
01.07.2022 bis 31.12.2022 | -0,88 Prozent |
01.01.2022 bis 30.06.2022 | -0,88 Prozent |
01.07.2021 bis 31.12.2021 | -0,88 Prozent |
01.01.2021 bis 30.06.2021 | -0,88 Prozent |
01.07.2020 bis 31.12.2020 | -0,88 Prozent |
01.01.2020 bis 30.06.2020 | -0,88 Prozent |
01.07.2019 bis 31.12.2019 | -0,88 Prozent |
01.01.2019 bis 30.06.2019 | -0,88 Prozent |
01.07.2018 bis 31.12.2018 | -0,88 Prozent |
01.01.2018 bis 30.06.2018 | -0,88 Prozent |
01.07.2017 bis 31.12.2017 | -0,88 Prozent |
01.01.2017 bis 30.06.2017 | -0,88 Prozent |
01.07.2016 bis 31.12.2016 | -0,88 Prozent |
01.01.2016 bis 30.06.2016 | -0,83 Prozent |
01.07.2015 bis 31.12.2015 | -0,83 Prozent |
01.01.2015 bis 30.06.2015 | -0,83 Prozent |
01.07.2014 bis 31.12.2014 | -0,73 Prozent |
01.01.2014 bis 30.06.2014 | -0,63 Prozent |
01.07.2013 bis 31.12.2013 | -0,38 Prozent |
01.01.2013 bis 30.06.2013 | -0,13 Prozent |
01.07.2012 bis 31.12.2012 | 0,12 Prozent |
01.01.2012 bis 30.06.2012 | 0,12 Prozent |
01.07.2011 bis 31.12.2011 | 0,37 Prozent |
01.01.2011 bis 30.06.2011 | 0,12 Prozent |
01.07 2010 bis 31.12.2010 | 0,12 Prozent |